das sonderheft 2017 von „moment by moment“ ist einem mehrseitigen interview mit jon kabat-zinn gewidmet (zweisprachig, deutsch und englisches original). jon kabat-zinn ist der begründer der methode „mindful based stress reduction“ (mbsr). hier ein zusammenfassung.
jon kabat-zinn (jkz) erinnert zunächst daran, was achtsamkeit im kern ist. es geht nämlich um viel mehr als um eine persönliche wohlfühloase auf dem kissen. achtsamkeit muss auf einem ethischen boden wachsen, der von dem wunsch, keine gewalt anzuwenden *, und von selbstlosigkeit geprägt ist. all unser handeln muss von dort entstammen, und dadurch gekennzeichnet sein, dass wir den graben von „wir hier“ und „dort die anderen“ überwinden. dieses denken hatte evolutionäre vorteile, darum prägt es uns so stark. doch es bringt uns heute als menschheit nicht mehr voran, im gegenteil. und dieses ausschliessen ist gefährlich, da es fast immer mit einer abwertung der anderen einhergeht. dann ist es nur noch ein kleiner schritt, „den anderen“ leid anzutun: rassentrennung, sklaverei, ausbeutung, völkermord sind beispiele.
jkz führt aus, dass heute die asymmetrie in der verteilung von wohlstand, privilegien und chancen zunimmt und die gesellschaft vergiftet. sogar wir praktizierenden tappen in die exklusionsfalle, dann nämlich, wenn wir zwischen solchen, die achtsamkeit und solchen, die mitgefühl praktizieren, eine trennung sehen. denn achtsamkeit und mitgefühl gehören zusammen, wie die beiden flügel eines vogels.
weil es so leicht ist, in die exklusions-falle zu geraten, ist es so enorm wichtig, dass eine praktizierende person zunächst einsicht in die verbundenheit mit allen menschen entwickelt, und dann aus dieser einsicht heraus handelt. so können wir alle dazu beitragen, dass sich die achtsamkeit verbreitet. dass sie dringend verbreitet werden muss, daran zweifelt jfk nicht; als beispiel erwähnt er die hohe verbreitung von zutiefst destruktiven verhaltensweisen wie drogenkonsum, fettleibigkeit und selbstmord. in mbsr programmen erleben menschen, dann oft erstmals, dass sie so viel mehr als ihre schmerzen, ihre depressionen sind.
tatsächlich ist achtsamkeit heute in der mitte der gesellschaft angekommen. jfk warnt, dass nun auch menschen auf der achtsamkeitswelle reiten, die noch nicht einmal praktizieren. und tatsächlich, sagt er, ist die dauerhafte kultivierung von achtsamkeit eine grosse herausforderung **. aber eben, es geht nicht um die private entspannung, sondern darum, das menschliche leid, das eigene und das der mitmenschen, zu adressieren und uns davon zu befreien. und nun besteht auf einmal die gefahr, dass achtsamkeit so überall ist und banalisiert wird, dass ihre essenz vergessen geht. das würde uns für jahrhunderte dieser wunderbaren chance berauben, eine renaissance in der gesellschaft herbeizuführen.
bleiben wir also dabei, uns immer wieder zu fragen, „wer bin ich?“. und geben wir uns nicht mit den antworten zufrieden, sondern bleiben wir beim fragen.
auf die künstlichen intelligenz angesprochen, sieht jkz, dass diese schon heute viel von unserem leben beeinflusst und vereinnahmt. die tendenz beschleunigt sich, und es wir immer schwieriger, den versuchungen zu widerstehen. verankern wir uns also erneut im fragestellen „wer bin ich?“, zu unserem eigenen wohl und dem wohl aller lebewesen und dem planeten.
zum glück gibt es viele wissenschaftliche studien zu mbsr, und so können achtsamkeit und wissenschaft *** sich wirkungsvoll ergänzen. doch wissenschaft ohne ethisches fundament kann in die katastrophe führen, wie die geschichte zeigt. vielleicht brauchen wir eine moderne form der demokratie, die mitgefühl einschliesst? in der wir einander wieder zuhören, statt in echokammern meinungen zu äussern. buddha und jesus postulierten „liebe jeden menschen“. das ist nicht theorie, sondern eine kapazität, die wir alle haben. oft schläft sie. durch tägliche achtsamkeitspraxis erwecken wir sie. und wir gewinnen gelassenheit, verlieren ärger, angst und neid. doch wenn wir behaupten, wir seien bereits achtsam, dann sind wir genau das ziemlich sicher nicht. wirklich achtsamkeit brüstet sich nicht, sondern tut einfach, was getan werden muss. frag dich immer wieder „wer bin ich?“ und „wer stellt die frage?“
anmerkungen der autorin.
* die yogis nennen das „ahimsa“. ahimsa ist das erste und wichtigste ethische gebot im Yoga, siehe patanjali yoga sutra. für einen tieferen einstieg: essay zu den yamas und niyamas von anja.
** ob man denn so weit kommen könne, auf eine formale praxis zu verzichten, fragte einst eine mitschülerin unseren meditationslehrer. dieser hatte lange für den 14. dalai lama gearbeitet und antwortete darum“seine heiligkeit, der dalai lama, meditiert jeden tag mehrere stunden zu beginn des tages. wenn sogar er nicht auf eine formale praxis verzichtet, wie vermessen wäre es dann von mir?“
*** aus sicht des yoga ist die introspektion ein weg, zu gültigem wissen zu kommen, ebenso wie die beobachtung und die überlieferung aus zuverlässigen quellen. yoga sieht sich darum (auch, aber nicht nur) als wissenschaft.